Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 22.11.1921

Kirchenkonzert des Oratorienvereins Kiel.

Am Totensonntag veranstaltete der Kieler Oratorienverein in der Nikolaikirche eine abermalige Aufführung der „Hohen Messe“ von Bach. Die Leistungen des riesigen Chores waren ungefähr die glei­chen wie bei der Aufführung während der Kieler Herbstwoche. Es traten wie dort dieselben großen Vorzüge und kleinen Schwächen in die Erscheinung. Wo es sich um eine machtvolle Entfaltung der Stim­men handelt, da ist dieser Chor von grandioser Wirkung. Ebenso ist die Wiedergabe von durchweg zarten Chören, wie beispielsweise das „Qui tollis“ oder „et incarnatus est“, vor allem aber das „Crucifixus“ von ergreifender, ja berückend schöner Wirkung. Auch einzelne crescendi wie im „Osanna“ sind unübertrefflich schön. Sowie aber Chöre wie beispielsweise das „Kyrieverschiedene Stärkegrade verlangen, klingt das pianissimo wie ein piano und das piano wie ein mezzoforte. Am Auffälligsten trat das im 26. Takt des zweiten Kyrie hervor, wo zwi­schen piano und pianissimo überhaupt kein Unterschied herauszuhören war. Diese Mängel wurden zwar schon bei der Besprechung der ersten Aufführung hervorgehoben, bestehen aber heute noch unverändert fort. Ebenso würden die Themen in den Mittelstimmen leichter zu verfolgen sein, wenn sie, wie das auch teilweise vorge­schrieben ist, stärker hervortreten würden. Um nur ein Beispiel anzuführen, verdeckt im 97. Takt des 1. Kyriechors der erste Sopran den das Thema bringenden 2. Sopran so sehr, daß er kaum heraus­zuhören ist. Wäre somit etwas mehr Kleinarbeit vor dieser Wieder­holung recht sehr am Platze gewesen, so soll gern hervorgehoben werden, daß der Chor seine Klangfrische, Klangschönheit und im ganzen auch Tonreinheit bewahrt hat. Der „Kleine Chor“ war wie schon früher ganz ausgezeichnet.

Anstatt des Rosenthal-Quartetts hatte man diesmal andere Solisten gewählt. Henny Wolffs Sopran eignet sich gut für den Kirchengesang. Die Stimme ist nicht übergroß, aber wohldiszi­pliniert; alles klingt sauber und rhythmisch genau, dazu stilecht. Agnes Leydheckers voller, gesättigter Alt paßt so recht für einen Kirchenraum. Sie ist tief in den Geist Bachs hineingedrungen. Die Wiedergabe der wunderbaren Arie „Agnus Dei“ war erhebend schön. Auch Martin Wilhelm versteht es, Bach zu singen. Sowohl im Einzelgesang wie im Duett mit dem Sopran — im übrigen in beiden Stimmen eine fein ausgeglichene Leistung — erfreute sein schöner weicher, leicht anschlagender Tenor. Theodor Simons (Baß) ist ein gewandter und tüchtiger Bühnensänger. Er wird gestern abend herausgefunden haben, daß es denn doch nicht so ganz einfach ist, Bach, wie es sich gehört, zu singen. Dazu gehört ein langes und eingehendes Studium.

Die bei den Arien und Duetten unentbehrlichen Instrumen­tal­solisten waren sich ihrer wichtigen Aufgabe wohl bewußt. Sie sowohl wie das ganze städtische Orchester spielten vorzüglich. Dr. Oppel meisterte die Orgel.

Der Chorleiter Professor Stein kann diesen Abend als einen weiteren Erfolg seiner fleißigen künstlerischen Arbeit buchen. Das übervolle Gotteshaus hat dem Chor und seinem Leiter gezeigt, daß Sinn und Verständnis für edle Kirchenmusik — und sei sie auch nicht in vollem Umfange gleich zu verstehen — in weiten Kreisen der Stadt vorhanden ist. Dieses große Interesse und das Bewußtsein, vielen Freude und Erhebung bereitet zu haben, möge dem Oratorienverein Dank und Lohn sein. Martens.

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