Philharmonischer Chor Kiel e.V.

Kieler Nachrichten, 17.06.2024

Zwingend gesteigerte Emotionen

Benjamin Reiners verabschiedet sich mit Mahlers Zweiter als GMD am Pult der Kieler Philharmoniker

VON CHRISTIAN STREHK

KIEL. Wenn sich Künstler verabschieden, ein letztes Mal für ein angestammtes Publikum ihr Herzblut geben, ist eine ganz besondere Stimmung mit großen Emotionen garantiert. Aber man muss sie eben auch so gekonnt steuern können, diese Emotionen, um allseits euphorische Begeisterung auszulösen. Das ist Generalmusikdirektor Benjamin Reiners in seinem allerletzten Kieler Philharmonischen Konzertdoppel exemplarisch gelungen.

Zumal, wenn das Programm mit Gustav Mahlers „Zweiter Symphonie“ auch noch von einer dramatisch negativ aufgeladenen c-Moll-„Todten­fei­er“ bis zur ganz großen Es-Dur-Auferstehungshoffnung nach Klopstock reicht. Reiners wählt, ganz nah an den präzisen Partiturvorgaben des Komponisten und legendären Dirigenten, einen betont texttreu grad­linigen Interpretationsweg – ohne jeden Geschmacksverstärker, ganz aus der Musik heraus.

Wie die frühen Interpreten, die noch mit Mahler selber gearbeitet haben, nimmt Reiners das Tempo im unwirsch begonnenen Trauer­marsch unbeirrt straff, zählt damit zu den schnellsten. Und siehe da, die sehr bewusst einkomponierten Momente der Ruhe treten berührend leuchtend hervor. Der Ländler im zweiten Satz schwebt wie ein schönes Trugbild besserer Zeiten in den Raum. Und der zentrale Mittelsatz entwickelt mit seinen faszinierend instrumentierten Seltsamkeiten den Anschein einer akustischen Geisterbahn.

Wenn dann die wunderschön singende Altistin Dshamilja Kaiser das „Urlicht“ anstimmt, dem zuvor durchlittenen Lebenskampf ein „Licht­chen“ am Ende des Tunnels in Aussicht stellt, geschieht das unter Reiners Leitung „sehr feierlich, aber schlicht“, eben genau wie gefordert.

Und von diesem Punkt an steigert und steuert der Dirigent die durch­weg mit Bravour mitziehenden Philharmoniker wie durch ein Portal zwischen „wild herausfahrender“ Hölle und verheißenem Himmel. Faszinierend ist, wie geheimnisvoll hier die Klänge der kleinen „Fern­orchester“ von außen in die künstliche „Philharmonie“ hineinwehen, wie nah hier großer Zusammenbruch und tröstend inniger Vogelruf beieinanderliegen.

Wenn dann die von Gerald Krammer sehr gut zusammengeführten Profis des Opernchores und die Ehrenamtsstimmen des Philharmoni­schen Chores wirklich „misterioso“ mit dem Solo-Sopran von Athanasia Zöhrer Auferstehung verkünden, ist der große Tusch zum Abschluss zwingend folgerichtig angebahnt.

Benjamin Reiners, der partout keine Abschiedszeremonie möchte, kommt in den Ovationen in der gut besuchten Wunderino-Arena Kiel letztlich doch nicht umhin, sich von seinen Fans (inklusive „Danke“-Spruchband), vom Orchester und den Chören allein feiern zu lassen: für eine starke Aufführung und fünf Jahre inspirierende Impulse.

Dass sich hier ein Kreis schließt, weil der dynamische GMD ein halbes Jahrzehnt zuvor vielversprechend (und bis heute viel haltend) am Seegarten anlandete, zeigt vorab die Hommage an die „Segelnde Stadt“: Das Werk der schwedischen Komponistin Britta Byström nimmt zwar Bezug auf ein Aquarell von Paul Klee, weckt aber mit ihrem auffällig obertonreichen Flimmern und Pulsieren tatsächlich Assoziationen an die kabbelige Ostsee im gleißenden Sonnenschein.

Auch hier erschallen Soli faszinierend aus dem Off (Posaunen), ist geschicktes emotionales Management garantiert. Hoffentlich nicht wirklich Reiners’ letztes Dirigat in Kiel.