Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Zeitung, 03.04.1933

Passions-Musik:

Heinrich Schütz, Matthäus-Passion

Am gestrigen Sonntagnachmittag veranstaltete der Oratorienver­ein eine musikalische Andacht in der Heiligengeistkirche und brachte bei dieser Gelegenheit eins der Hauptwerke von Heinrich Schütz in Erinnerung: Die Matthäus-Passion. Man hat sich in neue­rer Zeit, im letzten Jahrzehnt etwa, mit der Künstlergestalt Heinrich Schütz‘ mehr und lebhafter auseinandergesetzt als früher. Heinrich-Schütz-Feste wurden veranstaltet, um eine lebendige Vorstellung von dem Gesamtschaffen dieses hochbedeutsamen vorbachschen Ton­dichters zu vermitteln. Schütz, der „eisgraue Senior“ (er erreichte das schöne Alter von 87 Jahren) und „Vater der deutschen Musikanten“, gilt in der Tat heute „seit Ph. Spittas großzügiger Schütz-Erneuerung endgültig als einer der wenigen Ganzgroßen.“ So liest man’s bei Hans Joachim Moser. Es war somit recht verdienstlich, daß der Oratorien­verein den Namen Schütz auf sein Programm setzte.

„Das Leiden unseres Herrn Jesu Christi, wie es beschreibet der heilige Evangeliste Matthäus“, so singt der Chor zur Eröffnung der Passion. Und dann ziehen in unser Ohr die vertrauten Worte die von dem Leben und Sterben Christi künden. Eine Passionslesung mit verteilten Rollen. Ein Sänger singt den Evangelistentext, ein anderer die Worte Jesu, andere Sänger die der übrigen Personen. Bei Schütz geschieht das in vollkommen einstimmig-unbegleitetem Vortrag. Nur in den Volksszenen greift ein Chor ein. Diese völlige Enthaltsamkeit von instrumentaler Ausschmückung und die nur sparsame Anwendung mehrstimmigen Satzes verleihen dem Werk ein ganz eigenes Geprä­ge. Man steht sofort unter dem Eindruck einer gewissen Abseitigkeit des künstlerischen Geschehens. Für unsere an die verzwicktesten und überladensten Klanghäufungen gewöhnten Ohren ist es auch nicht ganz leicht, sich in diese asketischen Klänge hineinzuhören. Man fühlt aber doch bald den eigenen Reiz der Schützschen „Melodie“, die den Worten gleichsam einen „erweiterten Akzent“ gibt, und die an vielen Stellen so reich an malerischen Wendungen ist. Wundervoll schlagkräftig und ausdruckssicher sind die Chorstellen; es sind gera­dezu dramatiche Bilder, die die Leidenschaftlichkeit des mitwirkenden volkes aufzeigen und die jeweilige Situation mit einer erstaunlichen Anschaulichkeit kennzeichnen. —

Es ist nach dem eben Gesagten klar, daß die Wiedergabe dieser Passionsmusik keine leichte Aufgabe darstellt. Die Worte Christi und die Worte des Evangelisten zu singen, so zu singen, daß der in ihnen schlummernde seelische Gehalt zu vollem Ausdruck kommt, ist unge­heuer schwer. Es ist eine Aufgabe, die volles Begreifen durch den Sänger zur Vorbedingung hat. Der Oratorienverein hatte für diese beiden Partien zwei Herren herbeigeholt, die zu der Vortragsweise, die die Schützsche Deklamationslinie verlangt, die richtige Einstellung haben. Dr. Hoffmann, Halle, den Kieler Musikfreunden bestimmt kein Unbekannter, sang die Worte des Evangelisten, Paul Gümmer, Hannover, vertrat die Christus-Partie. Beide zeigten volles Verständnis für die geistige Haltung der Schützschen Choralpassion und brachten es zu einer in der Tat bildhaften Ausdeutung der Geschehnisse. Mit feinen Abstufungen wußte Paul Gümmer seinen sehr weich klingen­den Baß-Bariton zu handhaben. Wie er beispielsweise die Worte „Eli, Eli lama asabthani“ sang, diese Worte, die den Höhepunkt der ganzen Passion bedeuten, das war höchstmögliche Intensivierung des Ausdrucks. Die kleinen Partien hatten übernommen: Irmgard Mylord (Sopran), Erna Permin (Alt), Harald Hansen (Tenor), Wilhelm Loll (Tenor) und Prof. Fritz Ahl (Baß). Alle wußten sich in den besonderen Stil des Werkes hineinzufinden.

Der A-cappella-Chor unter Professor Steins Leitung sang die „Turbae“ so, wie wir es von ihm gewohnt sind: Mit Schönheit und Prägnanz des Ausdrucks und in untadeliger Reinheit der Intona­tion. — Eine kleine, aber mitfühlende Gemeinde folgte mit innerer Spannung den einzelnen Situationen des Werkes und ließ sich von der kultischen Bedeutung dieser Passion überzeugen.

Paul Becker.

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Siehe auch Dr. Engelke.

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