Politiken, 22.04.1930
Osterkonzert in der Frauenkirche
Zum 1. Ostertag in der Frauenkirche hörte man den A-cappella- Chor des Kieler Oratorienvereins, aber leider füllte der Zuhörerkreis den grossen Raum kaum aus. Zum Vortrag wurden sehr umfangreiche Gesangswerke gebracht. Zuerst eine Messe für 4-6stimmigen Chor von N. O. Raasted, die durchdrungen war von dem Wissen für geistliche Musik und guter Satzbehandlung, deren Inhalt aber mehr traditionell als persönliche Arbeit ist.
Es folgte ein Werk von Händel, ein Lutherscher Psalm „laudate pueri dominum“ für Sopransolo, gemischten Chor und Orchester. Das Werk, das vom Anfang bis zum Schluß durchdrungen ist von Händels Genie, zeigt den prächtigen Lobgesang, getragen von leuchtendem Geist sowie von der Gewissheit des Glaubens. Die sehr schwere Sopranpartie wurde mit Tüchtigkeit, ausserordentlicher Geschmeidigkeit und sicherer musikalischer Stilführung von Frl. Hertha Krützfeldt ausgeführt. Auch der Chor zeigte sich als ein hervorragendes Ensemble unter Prof. Steins anfeuernder Leitung.
2 grosse Orgelwerke, eine Ciacona von Buxtehude und 1 Präludium und Fuge von Nic. Bruhns wurden überlegen von N. O. Raasted ausgeführt und füllten den Rest des abendlichen Programms.
S.
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Berlinske politiske og Avertissements-Tidende, 22.04.1930
Kieler Oratorienverein.
Der Kieler A-cappella-Chor wünschte den Sieg, den er am Karfreitag in der Petrikirche errang, unter den günstigeren Bedingungen, wie sie in der Frauenkirche vorhanden sind weiter zu verfolgen und es zeigte sich in teilweise noch höherem Grade als neulich, welchen hohen Standard dieser nur aus Dilettanten bestehende Chor hat. Etwas Nervosität bei dem ersten Auslandsauftreten und andere zufällige Umstände haben gewiss verhindert, dass der Chor bei diesem Besuch zeigte, was er in den heimatlichen Verhältnissen zu leisten vermag. Aber seine Tüchtigkeit gegenüber so schwierigen Aufgaben wie Thomas' Passion und Raasteds Messe, die sichere Musikalität seiner Mitglieder und die feine Einfühlung in den musikalischen Stoff, die Ausgeglichenheit des Chores und sein voller, warmer Klang sind Qualitäten, die man sich merken wird. Seine Stärke scheinen die Baßstimmen zu sein, während von den anderen Stimmen merkwürdigerweise die Soprane am schwächsten zu sein scheinen mit einiger Neigung zur Schärfe und sinkenden Intonation.
Nachdem die Aufgabe der Raasted-Messe, die sicherlich an einem Mangel an bestimmtem Stil und zuweilen auch an unmittelbarer Inspiration leidet, aber auch schöne Stellen enthält (sowohl in musikalischer als gefühlsmässiger Hinsicht) und namentlich einen sehr stimmungsvollen Agnus-Dei-Schluss, gelöst war, ging der Chor mit frischem Mut an Händels Psalm, eine prächtige, musizierfreudige Jugendarbeit dieses Genies, durch und durch erfüllt von seiner klaren Musiklinie und seinem sicheren Willen. Das Solo, ein wahres Paradestück der alten italienischen Gesangskunst, das hinsichtlich der Atemführung und leichten Beweglichkeit der Stimme ganz ausserordentliche Ansprüche stellt, wurde von einer sehr jungen, jetzt in Wien studierenden Dame, Frl. Hertha Krützfeldt (aus dem Kieler Chor hervorgegangen) gesungen, und sie sang es schön, freudig und sicher, mit jugendlicher Musizierfreude, sodass ihre Wiedergabe grosse Aufmerksamkeit erweckte, die sie mit Herrn Felumbs teilen musste, der das Oboensolo fein und entzückend spielte.
Zwischen den Chorwerken spielte Herr Domorganist Raasted so überlegen wie immer eine Ciaconna von Buxtehude und eine leuchtende Fugen-Fantasie von Nik. Bruhns, dem jungen „vor Bach'schen“ Orgelmeister.
W.B.