Flensburger Tageblatt, 14.05.1965
Wieder die Neunte
9. Flensburger Sinfoniekonzert
Heinrich Steiner scheint seine langgehegte Lieblingsidee jetzt zu verwirklichen: alle Jahre wieder sein Flensburger Publikum mit Beethovens Neunter zu bescheren. Und wie recht er damit tut! In Scharen strömte das Volk herbei, nicht nur das festabonnierte, sondern auch die kulturellen Freizügler, die in großer Anzahl die Abendkasse bedrängten. Nachgerade möchte man bei so starkem Verlangen nach klassischer Hochkultur sich zu der Empfehlung versucht fühlen, die Neunte nicht nur ans Ende der Konzertsaison zu setzen, sondern außerdem an den Anfang; aber damit müßte es dann bewendet sein, da man sich sonst der Verdächtigung preisgäbe, man sei letztlich doch hinsichtlich des Programms allzu bescheiden oder merke gar die Wiederholung nicht . . .
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Steiner nahm sich diesmal für das Werk elf Minuten mehr Zeit als im November 1963, er zwang sich sogar zu noch breiteren Zeitmaßen als ein Jahr danach bei dem eindrucksvollen Gastkonzert mit dem gesamten Klangapparat in der Großen Musikhalle Hamburg. Da sprossen nun die Herrlichkeiten der Partitur auf, daß auch der kritische Hörer seine Freude daran haben konnte. Mochte der Flensburger Generalmusikdirektor das von Kants Geist erfüllte Werk mehr musikantisch als mitphilosophierend angehen, die erhabene Größe dieser herrlichsten aller Symphonien wurde vor allem im langsamen Satz dennoch über seine mannigfaltigen gefährlichen Klüfte hinweggehoben. Der Beginn wirkte etwas nervös, und im zweiten Satz wollen einzelne Zäsuren noch deutlicher gesetzt sein; wo es geschah, horchte man gebannt (in die mitmusizierende Stille). Im „Molto-vivace“-Satz mochte man sich zum erstaunlich präzisen Spiel dieses und jenes Crescendo intensiver entwickelt wünschen, die Proportionen der genialen Konstruktion treten dann deutlicher hervor. Den von Josef Beischer vorbereiteten Chor von Flensburg und den Städtischen Chor Kiel (Norbert Scherlich) haben wir früher schon gerühmt, so daß jetzt nur noch der Wunsch nach Verjüngung vorzutragen wäre. Die Solisten waren leider sehr unvorteilhaft postiert: sie gehören nach vorn, wo sie ihre Stimmen nicht derart strapazieren müssen wie seitlich hinter der Violinengruppe und dicht am großen Chor. Carole Rosen, Robert Bennett und Claus Ocker hatten diesmal die Sopranistin Gretta Harden von der Flensburger Oper als vierte beachtliche Stimme im gleichfalls schon wiederholt gelobten Bunde.
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Die „Chorphantasie“ op. 80 voranzustellen, war gut.Steiner ließ wirklich „der Töne Zauber walten“, wie's im Text steht. Den poetischen Klavierpart spielte mit überzeugendem Beethoven-Sinn Adolf Drescher, der weithin die Illusion eines Klavierkonzertes schuf und immer mit schöner Deutlichkeit im Spiel blieb. (Nur einzelne Triller wollen noch präziser über die Holzbläser hinausklingen). In der solistischen Besetzung bewährten sich in künstlerischer Eintracht vom Flensburger Opernteam Ingrid Hempel, Lieselotte Wulf, Carole Rosen, Wolfgang Hoffmann, Werner Wolschina und Hans-Joachim Zimmermann. An der Chorphantasie konnte man sich begeistern: Sie schloß die Herzen auf für die Hauptsache des Abends. Dr. Wilhelm Hambach
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Siehe auch -tz