Kieler Nachrichten, 16.01.1989
Sinfonie im Kieler Schloß
Norddeutscher Mahler ohne Manierismen
Vor vielen Jahren gab es in den USA ein Preisausschreiben , bei dem Musikliebhaber aufgefordert wurden, Franz Schuberts 7. Sinfonie h-Moll, die mit ihren nur zwei Sätzen die Unvollendete genannt wird, zu einem viersätzigen Werk zu vervollständigen. Wie immer das Ergebnis ausgefallen sein mag: Auch beim 4. Konzert des Kieler Philharmonischen Orchesters am Sonntagmorgen (es wird heute abend wiederholt) erklang die Sinfonie in ihrer ursprünglichen Fassung, und von fragmentarischem Charakter konnte keine Rede sein.
Dirigent Klauspeter Seibel ging in seiner Interpretation von einer ganz klaren Charakterisierung der Themen aus; jedes wurde für sich abgeschlossen ausformuliert, und zwar — wenn man so sagen kann — in einem eher geistigen Gestaltungswillen als in unbedingter Expressivität. Die klare und eindeutige Diktion machte die Themen und Motive bei jedem neuen Auftauchen sofort wiedererkennbar. Dabei erhielten im Verlauf des 1. Satzes die Überleitungsphasen eher Pufferfunktion; etwa die geradeheraus gespielten Bläserakkorde über Streicherpizzicati bewirkten beim Hörer eine Art Neutralisierung, sie beseitigten die Stimmung des Vorigen und öffneten das Ohr für das ganz andere Nächste, das Seibel jeweils neu aufbaute. So wurden die einzelnen Abschnitte Stück für Stück zusammengesetzt zu einer großen Form, deren Struktur in aller Deutlichkeit offenlag.
Den zweiten Teil des Konzerts bildete Das klagende Lied in der 1880 entstandenen ursprünglichen Fassung des damals gerade 20jährigen Gustav Mahler. Was bei Klauspeter Seibels Darstellung zuerst auffiel, war seine strikte Vermeidung jeglicher Manierismen — ja beinahe muß man sagen, daß er, um Übertreibungen vorzubeugen, seine Musiker etwas zu sehr zurückhielt. Zwar exponierte das Orchester gleich zu Beginn die Gegensätze von ruhig-beschaulicher Waldidylle und dramatischem Drängen in klarer Polarität, zwar inszenierte es traumhafte Klangflächen, die sich scheinbar aus dem Nichts erhoben — ansonsten jedoch wurde die Mahler-spezifische ‚Klangrede‘, der vorzügliche Einsatz der Farben des riesigen Orchesters als Ausdrucksmittel recht wenig herausgearbeitet.
Besonders im Waldmärchen und im Hochzeitsstück gelang aber eine unmittelbare Expressivität, die sich vor allem von der großen Lebendigkeit und Aufmerksamkeit der Musiker herleitete, die das jähe Nebeneinander der krassesten Kontraste voller Elan verwirklichten; nur gelegentlich wirkten die Übergänge etwas unschlüssig.
Von den Solisten soll hier stellvertretend die Altistin Ortrun Wenkel genannt werden; das wandlungsfähige, meist dunkle Timbre ihrer Stimme, die klare Intonation und ihre Art der Melodieformung entsprachen ganz Mahlers Behandlung der Singstimme als Instrument. Während die Solisten zu erzählen und das Orchester zu untermalen hatte, gestaltete der Städtische Chor (Einstudierung Imre Sallay) seine Partien als objektivierende Kommentare. Wann immer die Gefühlswallungen überhand zu nehmen drohten, brachte uns der klar und unmißverständlich Stellung nehmende Chor wieder zur Raison. So konnte sich bei diesem eher norddeutschen Mahler ein ungehindertes Schwelgen gar nicht erst ausbreiten. THOMAS KAHLCKE