Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 20.04.1924

Konzert des Oratorien-Vereins.

Die Johannespassion von J. S. Bach.

Karfreitag —

Vom Karfreitagszauber will die Natur heuer nichts wissen. Hart und unerbittlich und ohne den milden Geist der Versöhnung zeigte sich der frühlingslose Tag, der dem Erinnern an das Sterben Christi geweiht ist .... Die Kunst in jeder würdigen Gestaltung gibt auch hier den Aus­gleich. In Wort und Bild zeigt sie die Erschütterung der Seelen über die Tragödie auf Golgatha, und zu Klage und Lobpreisung erhebt die Musik ihre klingende Macht.

Johann Sebastian Bach ist der gewaltigste musikalische Künder der Passion Christi gewesen, wie er des Heilands Geburt, seine Auferstehung und die Ausschüttung des Geistes verherrlicht hat in unübertroffenen Werken. Von dieses Meisters Kraft, von seinem Geiste, von seiner erhabenen Größe, seinem stillen Humor und seinem Ernste, von seiner uns alle ergreifenden künstlerischen Weihe lassen wir uns führen aus der Enge zur Weite, aus dem Alltagsgeist zu Stunden seelischer Erhöhung, aus dem unerbittlichen Kampfe mit des Lebens Ungunst immer wieder zu einem fröhlich das Schöne erkennenden Idealismus.

Bachs Matthäus-Passion bringt die Leidensgeschichte des Herrn in einer Reihe von Bildern größten Ausmaßes. In hervortretenden Augenblicken wird die Erzähllung unterbrochen durch fromme Betrachtung, die sich in Arien ausspricht. Der Charakter der Johannes-Passion wird durch die Art der Leidensgeschichte bestimmt, wie sie das vierte Evangelium erzählt. Die Vorgänge sind weiter ausgespon­nen, alles zeigt sich in lebhafter dramatischer Zuspitzung. Es ist wenig Zeit zu beschaulichen Ruhepunkten. Die lyrischen Szenen des Abendmahls, ferner die Gethsemane-Stunde und noch etliche andere Vorgänge aus der Leidensgeschichte fehlen der Johannes-Passion. Bach hat aus eigener Machtvollkommenheit, wie er denn immer selber bessernde Hand anlegte an die ihm vorgelegten Texte, Episoden aus der Matthäusgeschichte herübergenommen, so das Weinen Petri, das Erdbeben bei Christi Hinscheiden. Diese Einflechtungen erweisen sich als Stimmungsmomente von tiefer Wirkung.

Die Johannes-Passion ist ein Werk voll Dramatik. Bach hat das Aufgeregte und Leidenschaftliche musikalisch besonders in den Chören zum Ausdruck gebracht. Die Menge ist fanatisch und begleitet die großen Gerichtsszenen vor dem Hohenpriester und Pilatus in turbulenter Weise. Der tragende Gedanke des Ganzen aber ist die Doppelidee von Leiden und Herrlichkeit, von Erniedrigung und Erhö­hung. Dafür hat Bach eine Fülle von Tonsymbolen gefunden, in denen man die Handlung musikalisch erkennen kann. Zwar soll man mit der Auslegung der Themen, ihrer Rhythmen, ihrer Intervallcharaktere sehr vorsichtig sein und nicht zuviel tun an „poetischer Auslegung“. Diese Musik ist schon an sich Poesie genug und wird zu einer Macht, die die Seelen bindet zu einem gemeinsamen Karfreitagsgefühl.

Auf den fest gefügten Quadern des Oratorienchores und des „Städtischen Orchesters“ baute sich die Aufführung auf, für die Herr Professor Stein sich als der geistig bewegte, von konstruktiver Erkenntnis und klarem Gefühl getragene Baumeister erwies. Die Choräle sang der Chor stimmungsvoll und verschmolz mit dem Orchester zu einer Klangeinheit voll Innigkeit und Schönheit. Die Herren Kraft (Flöte), Lauschmann und Wolter (Oboe) und Konzertmeister de Jager (Sologambe) spielten ihre instrumen­talen Soli meisterlich. An der Orgel, der eine umfangreiche Aufgabe zufällt, wirkte Herr Deffner. In fein erfaßter Einfühlung begleitete er die Rezitative, deren Registrierung er farbenreich, ohne grell oder unruhig zu werden, gestaltete. Dem Tutti gab er die rechte satte Untermalung.

Die Gesangssolisten haben eine ungemein schwierige Partie zu bewältigen, die rein technisch so sicheres Beherrschen des Stoffs verlangt, wie die Rezitative und Arien eine gleich sichere Erfassung des Ausdrucks beanspruchen. In Herrn Notholt, Hamburg, war ein Oratorientenor gewonnen, der alle Bedingnisse eines solchen erfüllt. Ein schwebender Klang, wie aus Gralsferne, ein leichtes, klares Sprechen kamen in der umfangreichen, vielen Fährlichkeiten ausge­setzten Partie zu schöner Geltung. Herr Martini sang die Christus­worte und Baß-Arien. In schlichtem Pathos hielt er seinen Vortrag frei von allem Geschraubten und ließ edles Gefühl frei werden. Fräulein Denker bewältigte die Sopranpartie in sehr anzuerkennender Weise, desgleichen Fräulein Stapelfeldt, Berlin, die Altgesänge, deren Arie „Es ist vollbracht“ zu besonders plastischer Wirkung kam. Herr Großmann mit den charaktervoll gesungenen Pilatusworten und Herr Röcker waren mit ihren kleinen Soli rechte Diener am Werk.

Die Aufführung, als Ganzes überschaut, war von stark verfaßter innerer Geschlossenheit, erhob sich zu Momenten tiefster Ergriffen­heit und in der überirdisch schönen mit ihrer klangseligen Begleitung „Betrachte, meine Seel“ zu einem „Karfreitagszauber“.

Professor Hans Sonderburg.

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siehe auch Rm.

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