Kieler Neueste Nachrichten, 12.02.1928
Abstimmungs-Gedächtnisfeier
in der St.-Nikolaikirche.
Am 10. Februar waren acht Jahre vergangen, seitdem Dänemark aus Feindbunds Gnaden Nordschleswig zum Geschenk erhielt. Der Wohlfahrts- und der Schulverein für Nordschleswig in Kiel läßt es sich nicht nehmen, an diesem Tage der Trauer den 25 000 Deutschen zu danken, die ihrem Vaterland trotz der sicheren Niederlage gegenüber 75 000 Dänen die Treue hielten, und der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß einmal, wenn der unheilvolle Zwist in deutschen Landen ein Ende gefunden hat, der Tag kommen wird, da wir mit unsern getrennten Schwestern und Brüdern im Norden unserer Heimat wieder vereinigt sein werden.
Dr. Oskar Deffner leitete den Abend mit dem herrlichen Präludium in E-Moll von Johann Sebastian Bach ein. In klarer Linienführung und sinnvoller Registrierung erstand der Prachtbau des gewaltigen Werkes vor der andächtig lauschenden Menge.
Darauf betrat Hauptpastor Andersen aus Flensburg die Kanzel und hielt eine Ansprache, der folgende Gedankengänge zugrunde lagen: Unsere Heimat gleicht einer Harfe mit vier Saiten. Die erste Saite klingt von Buchten und Förden der Ostsee, hinter denen, von sanften Hügeln und rauschenden Buchenwäldern umrahmt, träumende Seen den Himmel widerspiegeln. Auf der zweiten Saite singt es von Moor und Heide, von einsamen Bauernhöfen, umrahmt von dürrem Gestrüpp. Auf der dritten Saite tönt es von der weiten Marsch, auf der die Rinderherden weiden, und über dem grünen Teppich steigt jubelnd die Lerche auf. Die vierte Saite ist ernst gestimmt. Sie kündet von der grauen Nordsee, die unaufhörlich gegen die Inselwelt brandet, über der der kreischende Schrei der Möwe hallt, sie erzählt von der jahrhundertelangen Arbeit der Menschen, die ihre traute Heimat durch Dämme gegen das aufgeregte Meerschützen sollen. —
Seit jenem 10. Februar 1920 ist der Harfe oberer Teil zerschlagen; statt der Jubelakkorde ertönt aus ihren Saiten nur wehe Klage. Da entsteht bei uns die Frage, ob auf diesem von Dänemark ruhmlos erworbenen Land ein Segen ruhen kann. Wie würde eine Abstimmung heute ausfallen? Vielleicht würde sie unter dem Druck und der Not da oben ein umgekehrtes Ergebnis haben. Aber gleichviel. Den Deutschen, die damals der dreifachen Ueberzahl der Dänen nicht mutlos gegenüberstanden, gilt es immer wieder, für ihre Treue zu danken. Sie ließen sich wie echte Deutsche nicht von einem augenblicklichen Vorteil, sondern von ihrem Gewissen leiten und fragten nur: Was ist Recht? Wir wollen uns aber nicht in flüchtigem Rausch begeistern, sondern sie in ihrem Kampf stärken, vor allem auf dem Gebiet der Schule und Kirche. Es gilt, ihre seelische Kraft aufrecht zu erhalten, damit unsere Brüder und Schwestern da oben ihren freudigen Mut bewahren und ihre Treue dem großen deutschen Vaterlande auch weiter halten können. Freilich, solange wir wie jetzt zerrissen sind oder gar mit der Internationale liebäugeln, so lange haben wir kein Recht auf unser verlorenes Land. Darum soll der Gedenktag der Abstimmung uns ein Mahner sein zu rechter Treue gegen unsere Volksgenossen unter fremder Herrschaft, zum zielbewußten Handeln, um ihr Los zu erleichtern, und über allem möge walten die alles überwindende Liebe. Dann dürfen wir auch die Hoffnung haben, daß die zerschlagene Harfe, deren Saiten jetzt im Winde schwanken, einstmals wieder in ihren alten vollen Tönen erklinge, damit man wie im Evangelium vom Jüngling zu Rain auch von unserem verlorenen Landesteil sagen kann: „Er gab ihn seiner Mutter wieder“.
Eine besondere Weihe erhielt der Abend durch den A-capellaChor des Oratorienvereins, der unter Leitung von Professor Dr. Stein die Markus-Passion von Kurt Thomas sang. Je öfter man das Werk hört, desto herrlicher offenbart es seine Schönheiten, die geradezu geniale musikalische Auslegung, die der Tondichter dem Evangelisten gibt. Der Chor sang mit einer Sauberkeit und Wärme des Vortrags, die kaum zu überbieten ist. Glockenhelle Soprane, frische Tenöre, weiche Altstimmen und Bässe vereinigten sich zu einem so fein abgetönten Singen, daß alle sichtlich erhoben das alte Gotteshaus verließen.