Kieler Nachrichten, 13.10.1949
Kieler Uraufführung:
Die Trierer Marienklage
Ein altes geistliches Spiel - Neufassung und Musik von Karl Howe
Als vor vielen Jahrhunderten in der biblischen Lesung der Weihnachts- und mehr noch der Passionszeit ganz allmählich die gesteigerte Wechselrede und die ersten Züge symbolischer Handlungen sich zu regen wagten, als gar in die bis dahin rein lateinischen Texte die vertrauten Laute der eigenen Sprache hineinklangen, als schließlich Christus selbst in dieses geistliche Spiel als Handelnder miteingriff, da muß diese stufenweise Steigerung unsere Vorfahren tief gepackt haben. Denn nun konnten sie in der Sichtbarkeit, als Bewegung und Spiel, miterleben, was bisher nur erzählter Abglanz der kirchlichen Hoch-Zeit gewesen war.
Aus der Passionszeit hat sich in Oberammergau in fast ungebrochener Tradition das eigentliche Passionsspiel gehalten, bis in unsere Tage hinein, ganz im alten Sinne mit den Laienspielern der Dorfgemeinschaft. Der andere Zweig der Passionszeit, die Marienklage, ist vor allem aus der Bordesholmer und Alsfelder Handschrift bekannt.
Karl Howe geht mit seinem Werk auf die von Hoffmann von Fallersleben im Jahre 1821 in Trier gefundene Marienklage zurück, hat sie aber konzertmäßig gefaßt, auf das Spiel verzichtet und den Ablauf ganz auf die Musik und Deklamation verdichtet. Er gliedert musikalisch außerordentlich klar und plastisch, indem er große, tragende Chöre an den Anfang und das Ende jedes Teiles stellt und auch inzwischen immer wieder motivische Wiederholungen bringt, deren bindende und ordnende Funktion das liturgische Gerüst sehr nachdrücklich stützt. Dadurch bekommt das Werk eine echte, organische Geschlossenheit. Doch spricht die gefühlsmäßige Wärme ebenso nachhaltig, obwohl es zunächst Mühe macht, die mancherlei Stilelemente zur Einheit zu binden. Bei kirchlich katholischer Basis sind klangliche Weitungen da, die bis ins Impressionistische gehen. Organumhafte Quartenparallelen betonen dann wieder die herbe Seite, während der Kirchenchor „Quem quaeritis?“ zunächst rein tonal beginnt.
Die herausbrechenden Melismen der Maria im ersten Teil stehen der Oper nicht fern und wollten sich erst bei mehrfachem Hören in das Gesamtbild einfügen. Die große Schlußfuge endlich „Gloria in excelsis deo . . .“ ist, trotz äußeren Schwunges, im Verhältnis zu den best inspirierten Teilen des Werkes leicht konventionell.
Die Aufführung, von dem Komponisten und Magarethe Howe mit großer Sorgsamkeit einstudiert, darf als authentisch gelten. Sie meisterte die sehr großen Schwierigkeiten des Chorsatzes überlegen. Der städtische Chor und sein Jugendchor waren mit ganzem Einsatz dabei und hatten anfängliche Hemmungen bald fortgesungen. Dr. G. Beckmanns klangvoller, sicher behandelter, männlich schöner Baß war als Johannes die beste solistische Besetzung. Die gleichmäßige Aufwärtsentwicklung dieses Talentes verdient betonte Achtung. Grete Ziemer hatte im piano außerordentlich schöne Partien, während das forte nicht ganz frei bleibt. Claus Hamann in der kleinen Partie des Petrus steht wohl noch in der Entwicklung, zeigt aber gute Ansätze. G. E. Boblenz leidet offenbar an ungünstiger organischer Disposition, so daß man sich fragt, ob das sehr starke (wenn auch rasche) Tremolo zu beheben sein wird. Diese Anlage ist bedauerlich, da ein gutes Gehör und lebendiger Vortragssinn ausgeprägte Vorzüge sind und die Gestaltung günstig beeinflussen. Annemarie Tiedemann müßte in der Höhe noch recht arbeiten, um konzertreif zu werden. Durch die Halsigkeit des Ansatzes leidet auch die Reinheit. Auch Gertrude Steinhoff konnte noch nicht ganz befriedigen, während Karl Eckert sich mit der ungewohnten Aufgabe des Orgelspiels gut abfand.
Der Gesamteindruck der Trierer Marienklage ist der eines sehr charaktervollen, ernsten Tonwerkes, das aus Können und Kenntnis gebaut wurde, dem aber auch ganz echte Empfindungswerte zugrundeliegen, wie sie nur ein echter Künstler geben kann, der auch Mensch und Persönlichkeit ist. Dr. Hellmuth Steger