Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 03.01.1966

Stepps Neunte

Zur Silvester-Aufführung im Konzertsaal im Kieler Schloß

Ob man der von Richard Wagner im Jahr 1846 begründeten Auf­führungstradition folgt, die in Beethovens Neunter mehr als nur Musik sieht und den Sieg des Menschen über die chaotischen Elementarge­walten des Klanges auch in der Interpretation deutlich zu machen sucht, oder ob man, wie zuletzt in Kiel auf so zwingend souveräne Weise Peter Ronnefeld, ganz unpathetisch, fast elegant musiziert, mit schwebender Agogik, fließender Melodik und ganz selbstverständli­chen Übergängen, entweder also mehr romantisch oder mehr klas­sisch, wenn man so will, ist letzten Endes gleichgültig. Große Musik verträgt viele Deutungen, und jede Interpretation kann richtig sein, die nicht unter dem Niveau des interpretierten Werkes bleibt. Dies leider war nun der Fall bei der von Christoph Stepp geleiteten Auffüh­rung der Neunten beim Verein der Musikfreunde. Da unter Stepp nur Noten realisiert wurden und keine geschlossene, in sich gerundete Aufführung zustande kam, da im Grunde mehr en gros als en detail musiziert wurde, kann sich auch die Rezension nur darauf beschrän­ken, ein paar Feststellungen pro toto zu treffen.

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Der Dirigent, bar stärkerer Faszinationskraft, verstand es nicht, dem Apparat entscheidende Impulse zu geben. Die Streicher, zu knapp besetzt, klangen oft hölzern, die Bläser stumpf, die Einsätze bisweilen verwaschen; die dynamischen Akzentuierungen waren in beiden Richtungen gewaltsam, die Mittelstimmen gingen unter. Gegenüber dem vorangegangenen Konzert war das Orchester kaum wiederzuerkennen. Daß der Dirigent mit diesem Werk — zugegeben eines der am schwersten zu gestaltenden in der gesamten Konzert­literatur — überfordert war, war nach wenigen Takten eigentlich schon entschieden. Die leeren Quinten des Anfangs schon blieben ohne jede Spannung, ohne Magie; nicht logisch-konsequent in steter Steigerung, sondern abrupt wurde das Hauptthema entwickelt, keine präzise durchgehaltenen und zueinander richtig proportionierten Tempi gab es im Scherzo, und die „Cantabile“-Vorschrift des Adagios wurde von Stepp ignoriert.

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Keine Steigerung auch brachte der letzte Satz, brachte das Chor­finale. Die Aufführung schien Mendelssohn recht geben zu wollen, der diesen Satz für kaum realisierbar hielt. Nichts von dem dionysischen Freudentaumel, der bis zum strahlenden Jubel der Finalstretta immer mehr anwachsen muß, war zu spüren. Stepp versuchte, Intensität durch rhythmische Schärfe, forcierte Zeitmaße und dynamischen Volldampf zu erreichen — wobei es bisweilen erhebliche Ungenauig­keiten gab. Der Städtische Chor Kiel (von Norbert Scherlich einstudiert und durch Mitglieder des Städtischen Chors Flensburg verstärkt) bekam wenig Gelegenheit, seine Stimmkultur, seine Nuancierungs­fähigkeit zu zeigen. Im Solistenquartett dominierten mit Entschieden­heit die beiden Damen Helen Bovbjerg (Sopran) und Inger Paustian (Alt), die ihre Partien sehr ausdrucksvoll und mit starker Leuchtkraft sangen. Der Tenor Martin Häusler stand zwar im Vokalquartett vollauf seinen Mann, war aber im Alla-marcia-Solo nicht voluminös und kraft­voll genug, durchaus kein „Held zum Siegen“, und der Bassist Gott­hard Kronstein sang die wichtige Freudenbotschaft nicht mit der Wür­de, Kultur und Nachdrücklichkeit, die hier unabdingbar erforderlich ist.

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Das Niveaugefälle zwischen den einzelnen Gastdirigenten, die sich um die Position des Generalmusikdirektors in Kiel bewerben, ist ekla­tant. Der enorme und begeisterte Beifall, den die zur guten Tradition gewordene Silvester-Aufführung von Beethovens letzter Sinfonie auch in diesem Jahr fand, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit diesem Konzert Maßstäbe eher zerstört als gesetzt sind.

Peter Dannenberg

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Siehe auch T. W.

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