Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 24.11.1964

Eine musikalische Offenbarung

Zur Aufführung von Franz Schmidts „Buch mit sieben Siegeln“

Die Redewendung, jemandem sei etwas ein „Buch mit sieben Sie­geln“ geblieben, ist von geradezu lapidarer Plastizität. Die Geschichte vom Buch mit den sieben Siegeln, die Offenbarung des Johannes, ist ja einer der dunkelsten Teile der heiligen Schrift überhaupt; seit jeher Anlaß endloser theologischer Exegesen und Kontroversen. Jedermann kennt, mindestens von Dürers Holzschnitt her, die vier apokalypti­schen Reiter, aber niemand eigentlich kann guten Gewissens behaup­ten, er habe den visionären Text, denkerisch so groß wie dichterisch, die dramatische Schilderung von den eschatologischen Vorzeichen des Endes und vom Ende selbst in seiner ganzen Tiefe verstanden. Man muß daran erinnern, dies vorausschicken, um klarzumachen, welchem geradezu tollkühnen Unternehmen Franz Schmidt sich ver­schrieb, als er begann, die Offenbarung des Johannes zu vertonen. Daß dies vor ihm, die ganze Musikgeschichte hindurch, noch niemand gewagt hatte, ist sicherlich kein Zufall.

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Schmidt hat die Apokalypse auf eine sehr einleuchtende Weise gestrafft und montiert, in eine Form gebracht, die, seinen eigenen Worten nach, „alles Wesentliche womöglich dem Wortlaut nach bei­behält und dabei die geradezu unübersehbaren Dimensionen des Werkes auf durchschnittlichen Menschenhirnen faßbare Maße brach­te“. Aber nicht darin natürlich liegt die große, die genialische Leistung des Komponisten. Schmidts Versuch wird gerechtfertigt erst durch die Musik. Und sie versetzt, sieht man sich erstmals dem „Buch mit sieben Siegeln“ konfrontiert, in respektvolles Erstaunen. Franz Schmidt, der gleiche Jahrgang wie Arnold Schönberg, als Komponist des Zwischen­spiels zur Oper „Notre Dame“ Generationen von Radiohörern vertraut, außerhalb seiner östereichischen Heimat, wenn je bekanntgeworden, dann längst wieder vergessen, ist zeitlebens nie über eine solide Mittelmäßigkeit hinausgekommen — bis ihm mit seinem letzten Werk, dem Oratorium vom „Buch mit sieben Siegeln“ eben, 1935/37 ge­schrieben, ein Genieentwurf gelang, der nicht zu erwarten war und der auch mit seinem übrigen musikalischen Lebenswerk wenig ge­meinsam hat, so wenig wie mit all dem, was sonst in diesen dreißiger Jahren an Musik entstanden ist. Man pflegt das große Oratorium und seinen Komponisten der Spätromantik zuzurechnen. Doch das gilt nur in einem sehr eingeschränkten Sinn. Im Grunde läßt sich das Werk überhaupt nicht in eine der musikalischen Stilepochen einordnen. Es ist absolut sui generis, und eine Spektralanalyse der Komposition würde auf die verschiedensten Elemente stoßen. Schon der herrliche Anfang, der am Schluß wiederholt wird, die Diatonik der Johannes­worte, verweist in ganz andere Bezirke als die der Spätromantik. Alles läßt sich in diesem Werk finden: präzise Klangkoloristik und im Melos schwelgende Monumentalität, der gebrochene Klang chromatischer Schreibweise und pastose Unisono-Direktheit, lyrische Pastoral-Süße und rhythmisch aktivierte dramatische Kraft. All dies und anderes mehr, einem gewaltigen Vokal- und Orchesterapparat zugewiesen, bindet Schmidt zu völliger Einheit, und mit alldem setzt er die visio­näre Tiefe des Textes exakt, mit starker emotionaler Bewegung, ins Musikalische um — nicht in allen Teilen gleichwertig, aber in vielen doch genial: in den Anfangs- und Schlußworten des Johannes bei­spielsweise, in den warmen, fast menschlichen Worten des Herrn, dem ausgesparten, gespenstisch fahlen Duett der zwei Überlebenden zu einem bizarren Stakkato der mit dem Bogenholz geschlagenen Streichinstrumente, mit dem eindrucksvollen Orgelklang, der die große Stille im Himmel markiert, mit der düsteren, immens gesteigerten Quadrupelfuge vom Letzten Gericht, mit dem befreienden, immer von neuem angesetzten Hallelujah schließlich.

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Das Werk, um so unbekannter, je mehr man sich von Wien nach Norden entfernt, in Kiel aufgeführt zu haben, und es auf eine schlechtweg überzeugende Weise aufgeführt zu haben, ist eine große Tat Peter Ronnefelds. Der Kieler GMD weiß, daß das Ganze hier mehr ist als eine Summe von Details. Bewußt und richtig war seine Inter­pretation auf die große Alfresco-Wirkung angelegt, die sich nicht in die Einzelheiten verlor, bewußt war die zuweilen bis ins Pompöse ausla­dende Gewaltigkeit der Komposition aufgezeigt, bewußt war die Auf­führung kraftvoll, energiegeladen, farbig im Klang, nicht versonnen, sondern dramatisch. Was an barocker Fülligkeit, an urvitalem Musi­ziersinn in der Partitur steckt, ward hier ohne Zimperlichkeit, mit mächtigen dynamischen Steigerungen entbunden. Ronnefelds bester Sekundant: Kurt Equiluz, der, kurzfristig für den erkrankten Anton Dermota eingesprungen, die große Johannes-Partie sang, vollendet im Stimmlichen, vollendet in der Gestaltung. Sein wunderbar timbrier­ter, schlanker, aber nicht farbloser Tenor war mit äußerster Kultiviert­heit geführt. Equiluz sang keinen trockenen Evangelisten, sondern einen beteiligten Erzähler, der lebendig und temperamentvoll das Geschehen begleitet, Zuversicht und Begeisterung ausstrahlt, die Seele der ganzen Vorgänge ist. Neben ihm konnte sich das Solisten-Quartett (mit dem etwas zu massiv ausladenden Sopran Hanelotte Fechts, dem warmen Alt Maria Merbellers, dem silberhellen Tenor Martin Häuslers und dem würdig-runden Baß Carlos Fellers) respek­tabel behaupten, nicht ganz dagegen Wilhelm Hruschka, der die Stimme des Herrn sang.

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Die problematischste Seite der Aufführung schien mir der Städti­sche Chor zu sein. Zwar sang er, von Norbert Scherlich einstudiert, absolut sicher und sehr differenziert, allein er sang, besonders in den Männerstimmen, in einer viel zu kleinen Besetzung für die klanglichen Riesendimensionen des Oratoriums. Wenn in den großen Unisoni des Hallelujah der Chorklang ganz dem massierten Blech unterliegt, ver­schieben sich die Klang-Proportionen entscheidender, als es zulässig ist. Präzise folgte das Städtische Orchester Ronnefeld, hervorragend besonders in den schwierigen Bläser-Soli und -Tutti, farbig, genau mit dem Werk vertraut. Hervorragend, mit interessanter Registrierung spielte Hans Gebhard den wichtigen Orgelpart.

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Ein ungewöhnlicher Abend — nicht nur von der Werkwahl, sondern auch von der Qualität der Aufführung her. Daß Franz Schmidts Orato­rium, so dargeboten, dem Publikum kein Buch mit sieben Siegeln ge­blieben war, zeigte der Beifall — sehr herzlich, sehr lang, von Begei­sterung für das Werk und seine Kieler Interpretation getragen.

Peter Dannenberg

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Siehe auch E. A. oder Dr. H. S.

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