Volkszeitung, 24.06.1952
Beethovens Neunte in der Ostseehalle
Bekenntnis zum Leben — Bekenntnis zur Freude
Beethovens Neunte hat sich im Laufe der Jahre ihren Sonderplatz auch außermusikalisch erworben: Sie ist zur traditionellen Festwochen-Sinfonie geworden, zum sinnbildhaften Ausdruck des Außerordentlichen im Verlauf des bürgerlichen Gemeinschaftslebens. Auch im Rahmen der „Kieler Woche“ ist ihr diese Funktion zugefallen und sie hat sie, dank der gegebenen Voraussetzungen, wunderbar erfüllt.
Die offenbar hervorragend vorbereitete Aufführung war der Bedeutung ihres Anlasses angemessen. Das wesentlich verstärkte Städtische Orchester hatte (bei einer imponierenden Gesamtleistung) nach anfänglich leichter Unruhe hinreißende Höhepunkte im zweiten und dritten Satz, der Chor (eigentlich die Chöre: Städtischer Chor, Chor der Pädagogischen Hochschule, Chor der Bühnen der Landeshauptstadt) verdankte seine machtvolle Wirkung nicht nur einer vorbildlichen musikalischen Einstudierung, sondern auch der fühlbaren seelischen Hingabe des einzelnen an das Ganze — ein bei Chören für gewöhnlich sehr seltenes Faktum. — Georg C. Winkler baute den ersten Satz mit seinen großen, tragischen Spannungen ungemein plastisch auf, formte selbst innerhalb der scheinbar so gleichmäßigen Schnelligkeit des zweiten großartige Steigerungen heraus und ließ die unpathetische, wissende, ja fast zärtliche Melancholie des dritten zauberhaft erblühen. Den problematischen Schlußsatz nahm er kraftvoll geballt, fern aller romantisierenden „Deutung“, aber mit der vollen Wucht seines gigantischen Pathos. Die Deutlichkeit der architektonischen Entwicklung, die Beseeltheit der Tempi und ihrer dynamischen Details, die lebendige, bei äußerster Präzision sehr sensible Führung des Chors und die edlen Stimmen des Solistenquartetts (Clara Ebers, Hilde Büchel, Oskar Röhling und Theodor Schlott) machten diesen Satz auch in der Wiedergabe zur echten, von nahezu 8000 Zuhörern begeistert bejubelten Krönung des Werkes.
*
In seiner Begrüßungs- und Einleitungsansprache erläuterte Stadtpräsident Schmidt die Wahl gerade der „Neunten“ zum festlichen Auftakt der „Kieler Woche“. Wie Beethovens Meisterwerk sich kraftvoll über die dunklen Gewalten des Lebens erhebt, so sei auch die „Kieler Woche“ nach dem harten Ringen des Jahres ein Bekenntnis zur Freude geworden. Weiter gab der Stadtpräsident dem Wunsche Ausdruck, die „Kieler Woche“ möge als „Aktion des guten Einvernehmens“ die ganze Welt davon überzeugen, daß Kiel eine Stadt der internationalen Freundschaft und Völkerverständigung sei. (S. M.)
*
Siehe auch: Dr. Hellmuth Steger.
Volkszeitung, 30.06.1952
„Frühlingsgleiche Invasion junger Menschen“
Erster Landesjugendtag in Kiel — 11 000 Jugendliche hörten Beethovens Lied an die Freude
. . .
Im Anschluß an diese politischen Gespräche brachte das Städtische Orchester unter Leitung von Generalmusikdirektor Winkler den letzten Satz der neunten Symphonie von Beethoven zur Aufführung. Das Wagnis, Beethoven vor 11 000 Jugendlichen zu spielen, gelang überzeugend. Der jubelnde Optimismus dieses festlichen Satzes mit den völkerversöhnenden und -verbindenden Gedanken Friedrich von Schillers verfehlte nicht seine Wirkung. Dirigent, Solisten, Orchester und Chor wurden am Schluß mit einem in dieser Stärke und temperamentvollen jugendlichen Form nie erlebten Beifall überschüttet.