Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 31.12.1967

Wilfried Boettchers Neunte

Zur traditionellen Silvester-Aufführung im Kieler Schloß

Diese Neunte begann richtig erst mit der gesungenen Freuden­botschaft; Hans Sotin, eben zum Weihnachtsfest noch Liebermanns neuer Collin, trug sie mit ebensoviel voluminöser Nachdrücklich­keit wie kultivierter Stimmführung vor. Wie dort bei Puccini so hier bei Beethoven demonstrierte Sotin, daß auch ein Bassist wirklich weite, bei aller Schwärze blühende Legato-Bögen singen kann, daß großer Ton noch lange nicht Brüllen bedeutet — eine nützliche Lehre in einem Lande, dessen Bassisten-Idol über lange Jahre Gottlob Frick hieß. Neben Sotin vermochte sich im Solisten-Quar­tett vor allem Ursula Boese zu behaupten.

Wilfried Boettcher, der Nachfolger von Gabor Ötvös, dirigierte diesmal die traditionelle Kieler Silvester-Neunte mit seinen Hamburger Sinfonikern. Was über das Orchester vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt wurde, muß abermals betont werden: Die Streicher wollen nicht so recht klingen, können nicht crescendieren und decrescendie­ren — selbst die tiefen Streicher, die das Freudenthema im Vorjahre so zart und edel intonierten, blieben diesmal ziemlich spröde — den Bläsern, Blech wie Holz, mangelt es ein wenig an Kultur; Pauke und Becken drängten sich oft ungebührlich in den Vordergrund.

Boettchers Wiedergabe: Frische, größtenteils richtig zueinander proportionierte Tempi wurde zumeist angeschlagen und durchgehal­ten, bisweilen (im Trio etwa, das überhaupt nicht gegen das Haupt­thema des zweiten Satzes abgesetzt war) an der Grenze des Mögli­chen. Boettcher akzentuiert rhythmisch fast immer scharf, oft über­scharf, und nur im dritten Satz läßt er, wie sich nach der Cantabile-Vorschrift gebührt, die Streicher sich aussingen. Trotz der getriebenen Zeitmaße, der grellen Betonung des Metrums gewann die Aufführung nur stellenweise Spannung. Was Boettcher vor allem nicht gelang, waren die Übergänge, die nicht genügend vorbereitet und meist reichlich unorganisch waren.

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Hohes Lob verdient diesmal der städtische Chor, von Norbert Scherlich sicher studiert: Trotz der zahlenmäßig schwachen Besetzung der Männerstimmen klang er relativ ausgewogen in den Stimmregi­stern; auf einige überraschende Zeitmaße des Dirigenten wußte er sich sofort einzustellen.

Stepp, Ötvös, Boettcher: Dreimal hintereinander hat man jetzt am Silvesterabend nach Ronnefelds schlackenlos apollinischer, wunder­schön erstrahlender, wohl unerreichbarer Neunten männlich-kraftvol­le, vom Rhythmischen bestimmte Interpretationen der letzten Sinfonie Beethovens gehört. Der Unterschied liegt, wie stets im Leben, in der Differenz. Die Strecke, die Boettcher schlechter ist als Ötvös, ist er beser als Stepp. Oder umgekehrt. Völlig gleich, lang nämlich und begeistert, ist jedesmal nur der Beifall. (Konzertdirektion Streiber). P. D.

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