Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 30.06.1981

Nur alle hundert Jahre einmal

Gustav Mahlers 8. Sinfonie in der Kieler Ostseehalle aufgeführt

KN: ROLF GASKA   Kiel

Das Kulturprogramm der Kieler Woche 1981 endete mit einem Jahr­hundert-Ereignis. Diese Bezeichnung sagt freilich nichts über Qualität. Sie weist nur auf die Schwierigkeiten hin, die sich einer Realisierung der 8. Sinfonie Gustav Mahlers entgegenstellen; Schwierigkeiten, die so groß sind, daß Städte von der Größe Kiels das Werk nur „alle hun­dert Jahre“ anbieten können. Daß dies jetzt, zum Ende der Saison, im 9. Sinfoniekonzert der Stadt Kiel und des Vereins der Musikfreunde möglich wurde, hatte seinen Grund nicht zuletzt in der Kooperations­bereitschaft mehrerer norddeutscher Kulturträger: Man legte finanziell und künstlerisch zusammen, und jeder Beteiligte hatte gut davon. Das Beispiel sollte Schule machen.

Der Anblick in der Kieler Ostseehalle war so gewaltig wie das Werk selbst. Zwischen 400 und 500 Sänger des Städtischen Chors Kiel, des Hannoverschen Oratorienchors, der Wolfsburger Chorgemeinschaft, des Singvereins Oldenburg und des Knabenchors Hannover umrahm­ten ein riesiges Orchester, das sich aus Kieler und Lübecker Musikern zusammensetzte. Vorn an der Rampe sangen sieben Solisten, und ganz oben thronte die Blechbläsergruppe, für die Mahler einen „iso­lierten“ Standort vorschreibt. Walter Gillessen, der scheidende Kieler GMD, wirkte klein inmitten solcher Dimensionen; aber es zeigte sich, daß er Kraft genug besaß, das gigantische Ensemble zusammenzu­halten und zu einem fesselnden Ergebnis zu führen.

Gewisse Abstriche waren in Kauf zu nehmen. Die Ostseehalle, wenn auch zu Konzertzwecken praktikabel gemacht, kann es nun einmal mit der Berliner Philharmonie nicht aufnehmen. Das gilt sowohl für die Akustik als auch für die architektonischen Voraussetzungen. Mahlers 8. Sinfonie verlangt eine räumliche Trennung vokaler und instrumentaler Untergruppen. Je besser diese gelang, umso durch­sichtiger der Klang. In Kiel saß das Groß-Ensemble plan auf einer großen schiefen Ebene. Es war nicht anders zu machen. Aber die Raumwirkungen wurden dadurch reduziert. Der Klang wirkte eher blockhaft.

Daran lag es wohl zum Teil, daß Kenner des Werks manche dyna­mischen Feinheiten vermißten. Der Knabenchor beispielsweise, der sicher und rein sang, hätte unbedingt stärker herausgehoben werden müssen. Er ist sozusagen ein „Über-Chor“, in dem sich Musik und Metaphysik auf schlichteste Weise verbinden: die „wissenden“ Kinder. Diese und andere Differenzierungen der Sub-Ensembles wären sicherlich durch Lautstärkenregelung möglich gewesen. Ob es indes möglich ist, ein Formdetail wie das den Gang der „Faust“-Musik bestimmende Pizzicato-Motiv der Streicher auch den Hörern weit da hinten und weit da drüben noch kräftig mitzuteilen, sei dahingestellt.

Sieht man von solchen teils behebbaren, teils unverschuldeten Unvollkommenheiten einmal ab, so bleibt genug aufregend Großes, bleibt genug von Mahler. Die 8. Sinfonie hat ja nicht nur Freunde. Sie zieht den christlichen und den goetheanischen Mythos ins bürgerliche Zeitalter hinein, und sie kennt keine Skrupel vor großen Worten — so wenig wie die Architekten des späten 19. Jahrhunderts sich davor scheuten, Mythologie dekorativ auszuschlachten. Doch wir sind tolerant geworden gegenüber jenen Bürgern. Ihr Irrtum, wenn es einer war, ist nicht schlimmer als unsere Irrtümer. Wer daher Gustav Mahlers Haus besetzt, hat Glück. Er tut es legitim. Er darf sich im Mythos einrichten — wenigstens auf Zeit.

Der Hymnus „Veni, creator spiritus“, in machtvoller kontrapunkti­scher Gedrängtheit komponiert, wirkte wie ein musikalisches Monu­ment — auch ein wenig im Sinn des Unnahbaren. Man mußte sich den Zugang suchen. Über die Chöre, die gleich zu Anfang Hochgefühl verbreiteten, ging es am einfachsten. Wie weit man eindringen konnte, gaben Orchester und Solisten vor — unvorbereitet nicht allzu weit, fürchte ich. Doch es vermittelte sich der Ernst und der Enthusi­asmus des „Veni“.

Die „Faust-Musik“ ist einfacher. Sie differenziert sich leichter. An vielen Details zeigten sich Erfolge intensiver Chorarbeit: streng nach Mahlerscher Anweisung geformte Rhythmisierung und Akzentuierung, sinnvolle Lautstärkendynamik, Ausdrucksgenauigkeit. Im Fortissimo bebte die Halle. So, meinte Mahler, zieht uns das „Ewig-Weibliche“ hinan.

Die Solisten bedachte der Komponist reich. Zwei Soprane (Sabine Hass, Hanna Zdunek) wetteiferten in höchsten Höhen — manchmal erstaunlich schrill. Mater gloriosa (Kumiko Oshita), abgesondert von der Menge, brachte die reinste hohe Stimme ein. Die kräftigen Altstimmen (Hildegard Laurich, Shinja Kim) kamen makellos. Doktor Marianus (Donald Grobe) war ein Tenor von ausladenden oratorischen Gaben. Pater ecstaticus (Richard Salter) riß mit „Tristan“-naher Ener­gie die Hörer hin, und Pater profundus (Robert Holl) suchte „mit mäch­tigem Ton“ (Mahler) gegen das Orchester anzusingen.

Das Orchester seinerseits kämpfte mit der Halle. Trotz der Verstär­kung der einzelnen Stimmen überbrückte der Klang der Streicher und Holzbläser nicht ganz die Weite. Das Blech hingegen kam mit schöner Strahlkraft ins Bild. Spürbar blieb stets das Engagement für die große Sache. Walter Gillessen, der für diese Aufgabe noch einmal seine ganzen Kräfte angespannt hatte, darf mit seinem Abschied zufrieden sein.

Das Publikum in der nahezu ausverkauften Halle klatschte begei­stert. Die Tribüne dröhnte unter den beifalltrampelnden Füßen. Gelun­gen also — bis auf den berühmten Erdenrest.

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