Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 17.05.1993

Philharmonisches Konzert im Kieler Schloß: Dvoráks „Stabat mater“

Empfindsame Klage aus Böhmen

Ein geistliches Werk mit Passionsthematik mitten im Mai? GMD Klauspeter Seibel nahm, als er das 8. Philharmonische Konzert plante, den Kirchenkalender so wenig genau wie der Komponist: Antonin Dvoráks Stabat mater op.58 wurde im November 1880 in Prag urauf­geführt. Dvorák hatte damals, so darf man vermuten, viel persönli­chen Schmerz in die Partitur hineingeschrieben. Seiner Frau und ihm waren innerhalb kürzester Zeit drei Kinder gestorben. Die Klage der Mutter unter dem Kreuz war gewiß existentiell empfunden.

Seibel und seine Mitstreiter, die Chordirigenten Imre Sallay vom Städtischen Chor Kiel und Sándor Gyüdi vom gastierenden Victor-Vaszy-Chor Szeged, haben eine fesselnde Aufführung des eineinhalb­stündigen Werks erarbeitet. Sie wurde gestern morgen im Kieler Schloß begeistert aufgenommen. Heute abend, bei der Wiederholung, wird es wohl nicht anders sein. Es ist (wieder einmal) die glückliche Vereinigung von Genauigkeit und Empfindsamkeit, die das Miterleben so einfach macht.

Klauspeter Seibel führt den Stab nicht nur mit vorbildlicher Deut­lichkeit, so daß der große Chor und das Orchester nirgends aus dem Takt geraten; er achtet nicht nur auf kleinste Details, wofür man einige Belege leicht beibringen könnte. Er gibt dem Werk auch, was uns mitzieht, den erwünschten emotionalen Bogen: vom Blick aufs Kreuz (die Fis-Oktaven) bis zum erlösend-versöhnenden Amen (D-Dur-Akkord). Bemerkenswert, wie die wachsende Spannung dieser „epischen Tragödie“ (Jan Smaczny) bei der Wiederkehr des Kreuz­symbols im Finale das Zeitmaß verändert. Es ist — oder wirkt — dann etwas schneller. Anfang und Ende gleichen sich, sind aber nicht gleich, jedenfalls nicht für die musikalische Empfindung. Das spricht für Lebendigkeit.

Der vereinte deutsch-ungarische Chor kennt nur Eintracht. Es klingt, als träfe man sich wöchentlich zur Singstunde. Der Klang ist mächtig, fast raumsprengend im Fortissimo, füllig aber auch in der Piano-Region, wo vielleicht noch weitere Zurücknahme möglich wäre. Da hat Seibel Material genug an der Hand — für dramatische Wirkun­gen, für lyrische Wendungen, für kontrapunktischen Fluß und fürs sängerisch nicht eben unkomplizierte Amen, in das eine Erinnerung an Beethovens Missa solemnis hereinweht.

Das Orchester stützt und ergänzt das Klangbild mit der typischen Farbigkeit, die Dvorák auszeichnet. Im Stabat mater finden sich Annä­herungen an den barocken Gestus, ja, an den Choral. Doch irgendwie und alsbald führt uns der Komponist wieder auf seine Fährte, auf der wir (mehr im Scherz gesagt) durch die böhmischen Wälder lustwan­deln. Sehr bewegt die Holzbläser, das Blech mal hymnisch, mal fanfa­renhaft, oft akzentsetzend. Wunderschön die Streicher, wenn sie ins Werk hineingeleiten mit einer ruhig sich aussingenden Klage über chromatisch fallenden Harmonien.

Für den solistischen Teil bürgen Graciela von Gyldenfeldt, deren Sopran mühelos die flutenden Klänge überglänzt, Cornelia Wulkopf mit warmem, ausdrucksstarkem Alt, Ingus Petersons, dessen Tenor die notwendige leichte Höhe besitzt, und Hans Georg Ahrens, der allzeit Verläßliche, groß aufkommend mit seinem Fac, ut ardeat cor meum.

Was diese lateinischen Worte meinen, nämlich, daß „das Herz brenne“, geht auch sonst in Sologesang, Chor- und Orchesterklang ein — als expressive, intensive musikalische Energie, der man sich schwerlich entziehen kann, auch nicht mag. ROLF GASKA

Zuletzt geändert am