Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 17.12.1929

Reger - Kaminski - Thomas

Geburtstagskonzert des Collegium musicum für Professor Stein.

Dieser 29. Vortragsabend des Collegium musicum, bei dem ausschließlich Werke neuerer Komponisten zur Aufführung kamen, bedeutete eine Ehrung für seinen Gründer, Professor Dr. Fritz Stein, der am morgigen Dienstag seinen 50. Geburtstag feiert. So waren für die Vortragsfolge drei Tondichter gewählt, die dem Herzen des Jubilars am nächsten stehen: Max Reger, Heinrich Kaminski und Kurt Thomas.

Professor Stein wird sicher die überwiegende Mehrzahl aller Musik­freunde Kiels für sich haben, wenn er unter den „Neueren“ gerade diese drei Komponisten bevorzugt. Sind sie doch die Schöpfer hoch­bedeutsamer Tonwerke, die fern vom Getriebe der sogenannten „Atonalen“ stehen, jener gefährlichen Neutöner, die alle überkom­menen Ton- und Harmoniefolgen samt den in langer geschichtlicher Entwicklung herausgebildeten Formen leichten Herzens über Bord werfen, um an die Stelle ein unentwirrbares, mißtönendes Etwas zu setzen.

Gerade diese „drei Großen“ unter den Komponisten unserer Zeit sind die wahrhaften Neuerer, die in überragender Genialität, musika­lischen Geistes voll, die alten Formen mit andersgeartetem, neuem Inhalt zu füllen wissen.

Professor Steins allzufrüh verstorbener Freund Max Reger machte den Anfang mit den Variationen und der Fuge über ein Thema von Beethoven für zwei Klaviere Op. 86. Es ist erstaunlich, welche Fülle von Gedanken dem „modernen Bach“ in diesen zehn Abänderungen des an sich einfachen Themas zuströmen. Man ist bei jeder neuen Variation gespannt, was der Meister nun Neues und Interessantes zu sagen haben wird. Ob er sich den Klas­sikern oder Romantikern nähert oder eigene Wege geht, immer hören wir eine überreiche Fülle fesselnder, neuer, klar und schön dahinflie­ßender Gedanken in meisterlicher Form. Kurt Thomas und I. Therstappen spielten diese Variationen vollendet schön. An die Variationen schloß sich eine weitere Schöpfung Regers, eine Suite für Bratsche allein in E-Moll Op. 131 d, deren Schönheiten Hans Hörner-Hamburg mit seinem weichen, vollen Ton in der Kantilene und großer Virtuosität in den prickelnden Vivacesätzen ausgezeichnet zur Geltung brachte.

Es folgte ein Quartett für Klavier, Klarinette, Viola und Violon­cello in A-Moll Op. 1 b von Heinrich Kaminski. Das Werk stammt aus der Jugendzeit des Komponisten und atmet darum alle Frische der Jugend. Freilich läßt es die übliche Durchführung der Themen vermissen und gibt sich als eine Art von Variationen über ein ruthenisches Volkslied. Die gelockerte Form hindert jedoch nicht, dieser teilweise in kanonischer Art gearbeiteten Musik mit gespannter Aufmerksamkeit zu lauschen. — I. Therstappen (Klavier), Ernst Beetz (Klarinette), F. Dorigo (Violine) und O. Stenzel (Violoncello) boten eine fein durchgefeilte, abgerundete Wiedergabe des ebenso unterhaltsamen wie anregenden Werkes, dessen slawi­sche Tanzrhythmen sie im Scherzo und Finale besonders wirkungsvoll zu gestalten wußten.

Mit großer Spannung wurde die Erstaufführung einer Kantate „Weite Welt und breites Leben” für Chor, Orchester, Sopran- und Tenorsolo von Kurt Thomas erwartet, die der jugendliche Komponist seinem Lehrer, Professor Dr. Straube, in Anlaß seines 25jährigen Jubiläums als Dirigent des Leipziger Bachvereins und Gewandhauschors gewidmet hat. Da Straube auch Lehrer Steins ist, war damit gewissermaßen eine künstlerische Familienbeziehung versinnbildlicht.

Kurt Thomas hat die seinem neuesten Werk zugrunde liegenden Goetheschen Verse nicht nur mit besonderem Geschick für einen Tag des Rückblicks und Ausblicks ausgewählt, sondern ihnen auch eine in hohem Maße gelungene musikalische Ausdeutung gegeben.

Im breit wogenden Sechsachteltakt schildert der Eingangschor das Streben langer Jahre, das „stets geforscht und stets gegründet, nie geschlossen, oft geründet” sich auch in dem weit ausgesponnenen Hauptmotiv zu schöner Einheit rundet. Nach dem folgenden Duett in seiner freudig-zuversichtlichen Stimmung auf ein „Morgen, das nicht minder glücklich sei”, schließt der Chor in feierlich ernsten Tönen mit der Bitte: „Schaff', das Tagewerk meiner Hände, hohes Glück, daß ich's vollende! Laß, o laß mich nicht ermatten!” und dem frohen Aus­blick: „Nein, es sind nicht leere Träume, Einst nur Stangen, diese Bäume geben heute Frucht und Schatten.” Die große kontrapunkti­sche Kunst der „Alten” ist Thomas wohlvertraut. Er zeigt das in der Partitur auch äußerlich durch die bezifferten Bässe in der Klavierstim­me an; er trennt sich aber mit gutem Recht von allem Herkömmlichen und geht neue, eigene Wege, versteht sich immer im Rahmen des Schönen. Abweichend von seiner früher geschriebenen Kantate „Jeru­salem du hochgebaute Stadt” gibt er dem Orchester nunmehr eine duchaus selbständige Stellung, unabhängig von den Singstimmen.

Der Komponist, dessen Schöpfungen von Opus 1 an durch Profes­sor Stein die tatkräftigste Förderung zuteil geworden ist, dirigierte selbst die von Dr. Hoffmann mit großer Sorgfalt vorbereitete Auffüh­rung seines Werkes. Die Solovioline führte Ferdinand Böhme mit seinem vollen hübschen Ton ausgezeichnet durch, während Annemarie Sottmann und Hans Hoffmann im Zwiege­sang des Mittelsatzes an Klangschönheit und Verinnerlichung des Vortrages wetteiferten. — Der Chor, der sich aus Mitgliedern des A-cappella-Chors, der Kieler Singschar und einzelnen Sängern aus dem Collegium musicum zusammensetzte, sang mit besonderem Eifer und großer Klangfrische und verhalf dadurch der Kantate an seinem bedeutsamen Teile zu eindringlicher Wirkung.

Der Komponist wurde lebhaft gefeiert. Die freudig bewegte große Hörerschar ruhte nicht eher, bis Kurt Thomas mit Professor Stein Arm in Arm auf dem Podium erschien. Auch dann wollte sich der Beifall nicht legen, so daß die Kantate wiederholt werden mußte. Hier hatte das freudig musizierende Orchester Gelegenheit, kleine rhythmische Ungenauigkeiten der ersten Wiedergabe glücklich zu überwinden.

Es war ein Abend voll fröhlichen Genießens, bei dem vor allem auch der Dank für den Begründer des Collegium musicum, Professor Dr. Stein, der durch seine immer wertvollen Darbietungen das Verständ­nis für alte und neue Kunst kräftig gefördert hat, zum Ausdruck kam. Es scheint in der Tat wie für ihn gesprochen, das von Thomas musika­lisch belebte Goethebekentnis:

Aeltestes bewahrt mit Treue,

Freundlich aufgefaßtes Neue.

Heitern Sinn und reine Zwecke:

Nun, man kommt wohl eine Strecke!

Martens.

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