Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 18.12.1929

Wolfrums Weihnachtsmysterium in der Nikolaikirche

Geburtstagskonzert des Oratorienvereins für Professor Stein.

Der Komponist des bedeutenden, nach Worten der Bibel und Spie­len des Volkes gebildeten Weihnachtsmysteriums, Philipp Wolfrum, kam von der Orgel her. Er hat eine Reihe ganz vortrefflicher Orgelkom­positionen geschaffen, die zeigen, daß die überragende Kunst des großen Sebastian Bach für Wolfrums eigenes Schaffen nach Art und Geist betimmend geworden ist. Die hier gewonnene kontra­punk­tische Meisterschaft, die auch seine reiferen Orgelwerke kennzeich­net, tritt in vielseitiger Auswirkung in die klangliche Erscheinung ebenfalls im „Weihnachtsmysterium“, das seit etwa 25 Jahren über 100 Aufführungen durch leistungsfähige Chorinstitute des In- und Auslandes, darunter solche von Rang und Namen, erlebte. Aber es sind außer den kontrapunktischen auch ausgesprochen volkstümliche Elemente, die das Wesen des Wolfrumschen Weihnachtsmysteriums mitbestimmen. Der Komponist entnahm sie altkirchlichen Intonationen und alten Weihnachtsliedern. Beide verwendet er mit ausgezeichne­ter Wirkung nach Art des Leitmotivs. Es sei beispielsweise erinnert an die liebliche Melodie des bekannten und viel bearbeiteten Weih­nachtsliedes, das sich gewissermaßen als roter Faden durch die Szene „Die Geburt Jesu“ hindurchzieht: „Joseph, lieber Joseph mein“. Aehnlich ist es mit der Verwendung des alten Weihnachtschorals „Gelobet seist du, Jesus Christ“ im zweiten Teil des Werkes („Die Hirten bei der Krippe“). So findet eine Art Verknüpfung statt nach rückwärts zu den mittelalterlichen Weihnachtsspielen, deren urwüch­sige Volkspoesie Wolfrum in neuer klanglicher Fassung wieder leben­dig zu machen den Wunsch hatte. Der Komponist hat sogar an eine szenische Ausgestaltung seines „Mysteriums“ gedacht und soll dabei die Zustimmung eines Hans Thoma gefunden haben. Man erkennt daraus, wie sehr Wolfrum von dem Hauptgedanken der alten „Mysterien“ angeregt und beeinflußt wurde.

Die Aufführung des Werkes zum Gedenken des 75. Geburtstag des Komponisten (1854—1919) sowie zur Ehrung des 50. Geburtstages von Professor Stein, der ja ein Schüler Wolfrums ist, am Mon­tagabend in der St.-Nikolaikirche erbrachte den Beweis, daß eine szenische Darstellung — etwa in einer Reihe lebender Bilder — sich erübrigt. Die Musik ist mit außerordentlicher Plastik und nahezu greifbarer Anschaulichkeit geschrieben, so daß sie einer Unterstüt­zung durch Szenenbilder entraten kann, auch da, wo ihr besonderer volkstümlicher Einschlag sich auswirkt. Was an Bildern und Vorstel­lungen sich den bekannteren Melodien beim Hören verbindet, steigt ohnehin lebendig aus der Erinnerung an manches Meisterwerk der darstellenden Kunst von selbst herauf.

Umter Professor Fritz Steins ebenso umsichtiger wie künstlerisch bedeutender und mitreißender Leitung gelang die Auf­führung des zweiteiligen Werkes auf der ganzen Linie glänzend. Die chorische Leistung (großer und kleiner Chor des Oratorienvereins) zeichnete sich aus durch bemerkenswerte künstlerische Geschlossen­heit und gut durchgearbeitete klangliche Schattierungen. Im Verein mit dem vortrefflich musizierenden Städtischen Orchester und auch der Orgel (Dr. Deffner) gelangen klangliche Steigerungen von hin­reißender Pracht und Gewalt.

Andererseits verstand es Professor Stein auch ganz meisterlich, die hier auf der Basis einer bedeutenden Instrumentierungskunst des Komponisten erwachsenen reichen Klangvolumina gelegentlich zu bändigen und der Herausarbeitung feinerer Stimmungen gefügig zu machen. Uebrigens hatte das Orchester auch rein symphonisch eine abwechslungsreiche Aufgabe zu erfüllen in stimmungs- und gehalt­vollen Vor- und Zwischenspielen, zum Beispiel gleich in dem feierlichen Hauptvorspiel zu Beginn des Werks mit seiner meisterlichen Stimm­führung und einer Reihe außerordentlich wirkungsvoller Vorhalte. Auch die klanglich weit ausgreifende, imposante Bläsereinleitung (Blech­bläser), die dem zweiten Hauptteil vorangeht und zu der der Choral „Gelobet seist du, Jesus Christ“ und heitere Hirtenmusik das thema­tische Material liefern, sei noch hervorgehoben.

Unter den Solisten war Henny Wolff (Sopran) und Alfred Wilde (Tenor) aus Berlin die Hauptaufgabe gestellt. Sie wurde von beiden mit großer Meisterschaft erfüllt. Henny Wolffs gesang­lich-musikalisch wie allgemein künstlerisch hervorragende Leistung gipfelte in der Hauptszene des zweiten Teiles: „Maria an der Krippe“, übrigens einem überragenden musikalischen Höhepunkt des ganzen Werks. Recht ansehnliche Klangmittel und gut disponierten, klar gliedernden Vortrag konnte Alfred Wilde an die Durchführung seiner Aufgabe setzen. (Evangelist, Joseph, 3. Hirte.) In kleineren Partien dienten Annemarie Sottmann (Engel der Verkündi­gung), Vera Wicktors (Engel, Gabriel, Alt), Dr. F. Illert (2. Hirte, Baß) und Werner Hamann (1. Hirte, Baß) auch an ihrem Teile mit Erfolg der Erreichung des der Gesamtaufführung gesetzten hohen künstlerischen Zieles. W. O.

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